Sankt Otmar

Ohne Sankt Otmar gäbe es kein St.Gallen. Die um 612 errichtete Eremitenzelle des irischen Glaubensboten Gallus stand ein Jahrhundert nach ihrer Gründung vor dem Zerfall. Die kleine Gemeinschaft, die noch am Grab des Heiligen ausharrte, drohte auszusterben. Da setzte um das Jahr 719 der Arboner Tribun Waltram den in Chur zum Priester ausgebildeten Otmar als neuen Vorsteher der Galluszelle ein. Otmar war ein Alemanne und stammte wohl aus der Gegend zwischen Romanshorn und Arbon. Es gelang ihm, am Gallusgrab eine Klostergemeinschaft aufzubauen. Das hölzerne Bethaus der Galluszelle ersetzte er durch eine Steinkirche.

Zwischen 719 und 759, der Regierungszeit von Otmar, sind insgesamt 53 Klostereintritte verzeichnet. St.Gallen wuchs unter seinem Gründerabt schnell zu einem bedeutenden Kloster heran. Etliche Originaldokumente aus dem Stiftsarchiv St.Gallen erzählen von seinem Wirken, das in eine bewegte Zeit fiel. Im Jahr 746 unterwarfen die Franken Alemannien, was für das Kloster St.Gallen schon kurz nach seiner Gründung einen entscheidenden Einschnitt bedeutete. Otmar, der sich offenbar gegen die fränkische Bevormundung wehrte, wurde 759 gefangen genommen, in der Pfalz Bodman eingekerkert und zum Tod verurteilt, schließlich aber zu lebenslanger Haft auf der Insel Werd ›begnadigt‹. Dort starb Otmar, bereits kurz nach seiner Gefangensetzung, am 16. November 759.

Zehn Jahre nach seinem Tod wurde Otmars Leichnam nach St.Gallen überführt und dort zunächst in der Klosterkirche beigesetzt. Während der Bauzeit des karolingischen Münsters (Stiftskirche St.Gallen / St.Galler Klosterplan) wurden die Gebeine in die Peterskirche überführt. 864–867 ließ Abt Grimald (841–872) im Westen des Münsters eine eigene Otmarskirche errichten, in der die Reliquien des Heiligen am 24. September 867 feierlich niedergelegt wurden. Die Krypta dieser Kirche hat sich in der heutigen Kathedrale von St.Gallen auf der Westseite des Schiffs erhalten.


Die Kirchen des heiligen Otmar

Sankt Otmar ist Patron von zahlreichen Kirchen. Sein Patrozinium ist allerdings nicht so verbreitet wie jenes des heiligen Gallus. Die nebenstehende Karte dokumentiert die Kirchen des heiligen Otmar (grün) im Vergleich zu jenen des heiligen Gallus (orange). Eine ausführlichere Dokumentation der Otmarskirchen in Zentraleuropa ist im Entstehen begriffen, und zwar

hier…


Die Lebensbeschreibung des heiligen Otmar

Das Leben und Wirken des heiligen Otmar wurde um das Jahr 830 vom St.Galler Mönch Gozbert erstmals schriftlich festgehalten. Diese älteste Lebensbeschreibung ist jedoch nicht erhalten geblieben. Schon wenig später (834/838) hat der Reichenauer Mönch Walahfrid Strabo – der auch die Gallusvita redigierte – Gozberts Werk stilistisch überarbeitet. Walahfrids Vita sancti Otmari ist in über 20 früh- und hochmittelalterlichen Abschriften überliefert. Der folgende deutsche Text der Otmarsvita folgt der Übersetzung von Potthast/Wattenbach (in: Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, Leipzig 1888).

Das Leben des Abtes Otmar von St. Gallen

Vorwort des Walahfrid über das Leben des hl. Otmar

Nach Beendigung der beiden Bücher, die wir über das Leben und die Wunder des seligen Bekenners Gallus gemäß zuverlässigen Zeugnissen, welche in Schrift oder Rede auf uns gelangt sind mehr wahr als zierlich abgefasst haben, beliebt es nach eurem Willen, teuerste Brüder, die ihr in dem Kloster desselben heiligen Vaters lebt und ein Beispiel des Eifers, welchen er in göttlichen Dingen besaß, durch Ausdauer im heiligen Vorsatz gebt, diejenige Erzählung anzufügen, welche über die Bestrebungen des heiligen Vaters Otmar und über die durch sein Verdienst bewirkten Wunder infolge eurer Bestätigung und Sorgfalt wahrheitsgetreu verzeichnet wurde. Obgleich diese voll von Wahrheit und klar in ihrer Darstellung ist, so haben wir sie aus keinem anderen Grund wiederholt, als weil der teuerste Bruder Gozbert, dessen Zuneigung wir weder etwas verweigern wollen noch dürfen, gefordert, ja sogar befohlen hat, dass es geschehe. Ihn haben wir auch bei dieser Beschäftigung als sehr drängenden Antreiber ohne Überdruss frohen Herzens ertragen. Und so möge denn dem gläubigen Leser unser kurzer Auszug genügen; wer aber ungläubig ist, der wird, wenn er zu unserer Quellenschrift zurückkehrt, der vielfältigen Zeugenbestätigung beistimmen und, im Fall er dankbar ist, sich nicht langsam zum Glauben wenden.

Hier endet die Vorrede.

Es beginnen die Kapitel.

  1. Wie der Mann Gottes Otmar wegen der Heiligkeit seines Lebens der Zelle des heiligen Gallus vorgesetzt wurde und unter königlichem Schutz daselbst ein reguläres Leben einrichtete.
  2. Durch welche Vollkommenheit heiligen Lebens er glänzte.
  3. Welch großes Mitleiden gegen Arme er besaß.
  4. Auf welche Weise er von einigen Bösewichten für seinen glühenden Gerechtigkeitseifer mit vielen Unbilden heimgesucht wurde.
  5. Wie er bei der falschen Anschuldigung eines Verbrechens seine Demut bewahrte, und welche Strafe seinen Ankläger betraf.
  6. Wie er hinter den festen Riegeln eines Gefängnisses sein Leben beschloss.
  7. Wie man nach langer Zeit seinen Leichnam unversehrt aufgefunden hat.
  8. Auf welche wunderbare Weise bei der Übertragung seines Leichnams ein Unwetter gestillt wurde.
  9. Von der großen Fülle eines Trankes, welchen eine himmlische Macht dargeboten hat, und wo der Leichnam des Heiligen nach der Übertragung beigesetzt wurde.
  10. Ein Taubstummer wird an seinem Grabe geheilt.
  11. Wie an demselben Ort ein himmlisches Licht erschien.
  12. Wie leicht jemand, den man wegen eines Sturzes aufgegeben hatte, dort genesen ist.
  13. Ein Gichtbrüchiger erhält seine Gesundheit wieder.
  14. Wachs in Stein verwandelt.
  15. Einem Kleriker werden seine Hände wiederhergestellt.
  16. Wie dasselbe Grab beim Niederreißen der Kirche unbeschädigt blieb, und wie man die Reliquien des heiligen Mannes an einen andern Ort übertragen hat.
  17. Welche Erscheinung in demselben Bethaus einem Bruder kundwurde.

(1) Wie der Mann Gottes Otmar wegen der Heiligkeit seines Lebens der Zelle des heiligen Gallus vorgesetzt wurde und unter königlichem Schutz daselbst ein reguläres Leben einrichtete.
Otmar, ein Spross des alemannischen Volksstammes, wurde im Knabenalter von seinem Bruder nach Chur in Rätien geführt und blieb lange Zeit zur Dienstleistung bei Victor, dem Grafen jenes Landesteils. Ausgezeichnet durch seine Kenntnis in den Wissenschaften, Anhänger der Tugend und geschmückt mit löblichen Sitten betrat er die Stufe des Priestertums. Von dem erwähnten Grafen wohlwollend zurückbehalten, ward er Vorsteher der unter dem Namen des heiligen Bekenners Florin erbauten Kirche. [Man vermutet, dass es die Florinskirche in Remüs, im untersten Teil des Engadin am Inn war, wo dessen Grab verehrt wurde.] Die Trefflichkeit seines Charakters und die Reinheit seines heiligen Lebens drang weit und breit in süßer Rede zu den Ohren sehr Vieler. Deshalb erbat sich Waltram, an den die weit sich ausdehnende Einöde, in welcher der heilige Gallus eine Zelle errichtet hatte, von seinen Eltern durch Erbschaft gelangt war, ebendenselben Otmar von dem erwähnten Victor, um ihm jene Zelle zur Leitung zu übergeben. Nach erlangter Einwilligung in sein Begehren übertrug er jenem feierlich die Einsiedelei mit allem Zubehör. Er reiste, damit sein nützliches Vorhaben besser gekräftigt werde, zum König Pippin, stellte ihm ebenjenen als Abt vor und übergab den Ort, welchem er den Otmar schon vorgesetzt hatte, dem Fürsten zum Eigentum, indem er inständigst bat, es möge Otmar ebendiesem Ort unter königlichem Schutz nochmals als Abt bestätigt werden. Dieser Bitte lieh der schon erwähnte Fürst ein geneigtes Ohr, verlieh dem ehrwürdigen Mann den ihm geschenkten Ort und hieß ihn dort ein reguläres Leben einrichten. Jener aber kehrte zurück, errichtete, von vornherein den Eifer eines guten Mönches beweisend, an allen Seiten Gebäulichkeiten, die dem mönchischen Leben entsprachen und ordnete mit größter Sorgsamkeit den Zustand des heiligen Ortes zum Nutzen des göttlichen Dienstes. Durch sein freundliches Auftreten lud er die Gläubigen dergestalt zur frommen Hingebung ein, dass er durch die Schenkungen einiger die Besitztümer des Klosters weithin ausdehnte und innerhalb weniger Jahre sehr viele Brüder zum Dienst klösterlicher Übung heranzog und unter seiner Leitung und Sorgfalt auf das Beste regierte.

(2) Durch welche Vollkommenheit heiligen Lebens er glänzte.
Nach diesen Andeutungen sei es uns erlaubt, die Heiligkeit seines Lebens in Kürze durchzugehen, damit es allen vollständig klar werde, durch welche erstaunlichen Fortschritte er diesen Ruhm erlangt habe. Otmar war ein großer Anhänger der Sparsamkeit und kreuzigte seinen Körper durch sehr häufiges Enthalten von Speisen, so dass er an den kirchlichen und ordensmäßigen Fasten öfters zwei Tage lang die Enthaltsamkeit fortsetzte. Bewaffnet mit diesen Schilden gegen die Geschosse der Versuchungen liebte er Nachtwachen und verscheuchte durch unausgesetztes Gebet die geistigen Ausschweifungen. Vorzüglich begabt mit der Gnade der tiefsten Demut liebte er die freiwillige Armut so sehr, dass er irdischen Glanz auf alle Weise floh. Wenn die Notwendigkeit eine Reise zum Nutzen des Klosters erforderte, hatte er die Gewohnheit, auf dem geduldigen Rücken eines armseligen Esels zu reiten. Außerdem besaß er eine so große Sorgfalt für die Armen, dass er ihre Pflege lieber selbst verrichtete als durch andere ausüben ließ. In jenem Werk der Barmherzigkeit aber, welches Almosengeben genannt wird, war ihm kaum ein Zweiter zu vergleichen. Denn zur Aufnahme von Aussätzigen, welche in der Regel von den übrigen Menschen getrennt blieben, baute er nicht weit vom Kloster außerhalb der Wohnungen, in denen die übrigen Armen untergebracht wurden, ein kleines Spital. Er wendete ihnen auf alle Weise seine Pflege so ernstlich zu, dass er auch in den nächtlichen Stunden oft das Kloster verließ und seine Sorge ihrer Schwachheit mit einer bewunderungswürdigen Geduld und Demut widmete. Er reinigte nämlich ihre Köpfe und Füße, säuberte die eiternden Wunden mit eigenen Händen und reichte die notwendigen Nahrungsmittel dar, immer im Geiste jenen Ausspruch erwägend, mit welchem einst der gerechte Richter die Barmherzigen anreden wird: »Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« Und so geschah es, dass er von allen, welche ihn kannten, hochverehrt und allgemein Vater der Armen genannt wurde. Ihn hatte ein solcher Eifer für Mildtätigkeit völlig ergriffen, dass, wenn er einen Notleidenden in schimpflicher Nacktheit erblickte, er öfter seine Kleider auszog und damit die Glieder der Elenden bedeckte; bisweilen kehrte er auf diese Weise ohne Obergewand in bloßer Kutte zum Kloster zurück. Denn er wollte lieber durch Geringschätzung des gegenwärtigen Prunkes zum Kleid ewiger Unvergänglichkeit gelangen, als durch Unterlassung eines guten Werkes die Schmach künftiger Nacktheit erleiden.

(3) Welch großes Mitleiden gegen Arme er besaß.
Als Otmar eines Tages den König Pippin besuchte, fand er eine ehrende Aufnahme und empfing unter anderen wohlwollenden Beweisen seiner Freigebigkeit siebzig Pfund Silber zum Besten der Klosterbrüder. Sobald er sich aber auf den Heimweg begeben hatte, verteilte er den größten Teil dieses Geldes an den Toren des Palastes unter die Armen; nur wenige Gulden behielt er, wozu ihn die begleitenden Brüder kaum bewegen konnten. Für diese erkaufte er nachmals ein Stück Land, welches dem Kloster benachbart war. Denn wohl eingedenk der Vorschriften des Herrn gedachte er seinetwegen nicht des kommenden Tages, wissend, dass ein Mönch mit seinem Lebensunterhalt und seiner Bekleidung zufrieden sein müsse. Und deshalb erwählte er für sich und die Seinigen lieber die Armut als den überflüssigen Besitz vergänglicher Dinge, die erhabenen Seelen nur zur Last gereichen.

(4) Auf welche Weise er von einigen Bösewichten für seinen glühenden Gerechtigkeitseifer mit vielen Unbilden heimgesucht wurde.
Als nun der Herr beschlossen hatte, die Verdienste Otmars würdig zu belohnen, unternahm es der schlaue Feind alles Guten aus Neid wegen der frommen Handlungen desselben und voll Kummer darüber, dass durch sein Beispiel das Leben anderer Nutzen ziehe, die Ruhe zu stören, welche dieser im Dienste Christi, wenngleich unter nicht geringen Mühen, genoss. Aber obwohl getroffen von den Winden zeitlicher Widerwärtigkeit, verblieb doch die Zeder des Paradieses unerschüttert, da ihre Wurzel fest im Felsen der Wahrheit haftete. Denn Warinus und Ruadhardus, welche zu damaliger Zeit ganz Alemannien verwalteten, zogen auf Anraten des Teufels und, angefacht durch die so gräuliche Krankheit der Habsucht, die Güter der in ihren Gebieten gelegenen Kirchen großenteils als ihr Eigentum gewaltsamerweise ein. Da sie sich von den Besitztümern des heiligen Gallus gar viele durch denselben kühnen und gewaltsamen Griff angeeignet hatten, begab sich der Mann Gottes Otmar, wiewohl nicht begierig nach irdischen Gütern, sondern nur weil er bei eintretendem Mangel den Verfall des klösterlichen Lebens an diesem Ort befürchtete, zum König Pippin. Er setzte demselben die tyrannischen Übergriffe jener auseinander, indem er zugleich behauptete, dass der König ein schweres Verbrechen begehen würde, wenn er durch seine Billigung deren Handlungen begünstigte. Aus diesem Grund berief der wohlwollende Fürst beide und drohte ihnen, auf jedwede Weise seine Gnade zu entziehen, wenn sie nicht das, was sie den Kirchen Gottes auf ungerechte Art genommen hätten, unverzüglich zurückstellten. Aber jene kehrten heim und missachteten, angesteckt von dem Laster der Raubbegierde und vor tierischer Rohheit ganz wild, den königlichen Befehl. Auch ließen sie den Mann Gottes Otmar, als er deshalb den König von neuem angehen wollte, durch heimlich nachgesendete Waffenleute in Banden werfen und gewaltsam zurückführen. Und einen gewissen Landpert, der den Brüdern wegen Ablegung der Gelübde, nicht aber wegen seines frommen Lebenswandels zugezählt wurde, überredeten sie, dass er den Mann Gottes durch eine fein ersonnene List des Lasters der Wollust bezichtigte, indem sie darauf hinzielten, so seine Heiligkeit zu verdächtigen und Gelegenheit zu seiner Absetzung zu finden. Man berief eine Versammlung, deren meisten Mitgliedern dieses falsche Parteigetriebe unbekannt war.

(5) Wie er bei der falschen Anschuldigung eines Verbrechens seine Demut bewahrte, und welche Strafe seinen Ankläger betraf.
So wurde nun der wegen seiner Sittenreinheit, Charakterreife und seines hohen Alters ehrwürdige Mann in die Mitte der Versammlung geführt und als dessen Ankläger Lantpert, der Diener der Unwahrheit, vor allen aufgestellt. Nachdem die Erlaubnis zum Reden erteilt war, sagte dieser wahrheitsvergessene Bekenner der Lügen, dass er ein Weib kenne, welches von dem frommen Mann genotzüchtigt sei. Hierauf soll Otmar durchaus nichts erwidert haben; und als er von sehr vielen angegangen wurde, auf diese Vorwürfe zu antworten, tat er folgenden Ausspruch: »Ich bekenne, dass ich übermäßig in vielen Stücken gesündigt habe; über die Anschuldigung dieses Verbrechens aber rufe ich Gott, der in mein Inneres schaut, zum Zeugen an.« Da ihn jene aber heftiger drängten, sich von der Anschuldigung dieser Tat zu reinigen [nämlich durch einen Eid mit Eideshelfern], verharrte er ruhigen Geistes und reinen Gewissens im Stillschweigen; denn weil er die offene Einwilligung der Richter zur Anklage erkannte, wollte er wegen seiner Herzensreinheit lieber dem göttlichen, als durch die Verantwortung über ein Verbrechen dem menschlichen Gericht gefallen. Bald auch ergriff, auf dass allen klar werde, die Keuschheit des Mannes Gottes sei fälschlich geschmäht worden, den Lantpert die göttliche Rache. Denn durchdrungen von einer Fieberplage begann er bei allmählichem Schwinden der Gliederkraft lahm zu werden. Und da so alle Glieder seines Körpers die Geradheit oder Form verloren und der Kopf nach Art der vierfüßigen Tiere zur Erde sich neigte, bezeugte er jeder Zeit nicht allein durch die Hässlichkeit seiner abschreckenden Figur, sondern auch mit lauter Stimme, dass er gegen den Heiligen Gottes gesündigt habe. 

(6) Wie er hinter den festen Riegeln eines Gefängnisses sein Leben beschloss.
Nachdem die ungerecht begonnene Versammlung noch ungerechter geschlossen war, wurde der Mann Gottes Otmar bei dem Hofgut Potamum [heute Bodman; die Königspfalz, wovon der See den Namen hat] in der Pfalz eingeschlossen. Weil keinem dort einzutreten oder mit ihm zu reden erlaubt wurde, so verbrachte er einige Tage ohne körperliche Nahrung. Und da er durch die langwierige Hungerplage litt, so pflegte Perahtgoz, einer der Brüder, nachts zu kommen und ihm Trost der Nahrung zu bringen. Später ließ ihn ein gewisser mächtiger Mann namens Gozbert, der von den ungerechten Fürsten die Überantwortung des Mannes Gottes erlangt hatte, nach einer Rheininsel namens Stein, nicht weit von seinem Landgut in Gewahrsam führen. Dort ergab der heilige Vater sich nur geistigen Übungen, das heißt Gebet und Fasten, und er diente Gott umso ungestörter, als er menschlicher Besuche und irdischer Sorgen ledig war. In diesen und ähnlichen Werken gewohnter Andacht verharrend wanderte er nach nicht gar langer Zeit aus dieser Enge weltlicher Trübsal zu der Weite der himmlischen Freuden am 16. November, und sein auf derselben Insel bestatteter Leichnam blieb lange Zeit dort ohne Zerstörung. 

(7) Wie man nach langer Zeit seinen Leichnam unversehrt aufgefunden hat.
Als aber zehn Jahre nach seinem Heimgang verflossen waren, wurden die Brüder desselben durch ein Gesicht vom Herrn daran erinnert, dass sie den Leichnam des teuren Vaters nach dem Kloster zurückführen sollten. Nach dieser Offenbarung gelangten unter Beistand der göttlichen Gnade elf Brüder in der Nacht zu dem Ort, wo die sterbliche Hülle des heiligen Mannes aufbewahrt wurde, öffneten das Grab und fanden den Körper desselben von jedweder Verletzung unberührt, mit Ausnahme des äußersten Teiles eines Fußes, welcher nach geschehener Abwaschung mit Wasser nur seine Farbe verändert hatte und gleichsam verdorrt erschien. Und in diesem sehr angemessenen Wunder erglänzten die ersten Beweise seiner Heiligkeit, dass nämlich sein Leichnam so unverletzt und unzerstört aufgefunden wurde, wie er selbst von einem Verbrechen frei gewesen war, von dessen Vorwurf er seinerzeit besiegt zu sein schien. Nachdem die frommen Brüder vollkommen über diese Neuheit der Dinge sich belehrt hatten, erhoben sie den Körper ehrfurchtsvoll, brachten ihn auf ein Schiff, zündeten Kerzen an und stellten die eine zu den Häupten, die andere zu den Füssen des Heiligen.

(8) Auf welch wunderbare Weise bei der Übertragung seines Leichnams ein Unwetter gestillt wurde.
Und da sie nun nach dem Verlassen des Ufers sich den unsicheren Wogen der Tiefe anvertraut hatten und alle Kraft auf die Ruder verwendeten, um möglichst schnell zurückzukehren, erhob sich alsbald eine so heftige Gewalt von Regen und Sturm, dass sie kaum an ein Entrinnen glaubten. Aber durch das bewunderungswürdige Walten des allmächtigen Gottes und, wie wir vermeinen, durch die Verdienste des heiligen Mannes trug es sich zu, dass sogar die Elemente, welche uns gefühllos erscheinen, der Macht ihres Schöpfers dienten und merkten, welch eines großen Mannes Überreste daselbst gefahren würden. Denn der ringsum von regenschwangerem Unwetter aufgeregte und die Wogen hochtreibende See verursachte den Ruderern durchaus keine Mühen, sondern das Schiff, wohin immer es gelangte, verdrängte den Sturm und drückte die heranstürmenden Wogen nieder. Und oft war es, wenn das Drängen der Wellen, die Regengüsse und der Winde heftiges Wehen vollständig auf einem nicht kleinen Raum beseitigt waren gleichsam von einem schützenden Zaun umgeben, so dass nicht einmal ein Regentropfen dasselbe berührte. Auch die Wachskerzen, welche zu Ehren des seligen Vaters brannten und zu Häupten und Füssen desselben standen, verloren durchaus nicht den seit Beginn ihrer Anzündung ausgeströmten Glanz, solange man den Körper desselben zum Kloster übertrug.

(9) Von der großen Fülle eines Trankes, welchen eine himmlische Macht dargeboten hat, und wo der Leichnam des Heiligen nach der Übertragung beigesetzt wurde.
Noch bleibt ein anderes Wunder zu erwähnen, welches bei derselben Übertragung des heiligen Körpers der Herr den andächtigen Brüdern offenbarte. Denn als sie sich, ermüdet von der sehr großen Anstrengung des Ruderns, beim Herannahen der Erholungsstunde zur Stärkung der Kräfte durch körperliche Nahrung und Darbringung des Dankgebetes niedersetzten und man nun endlich daran erinnerte, mit dem gemütlichen Mahl einen erheiternden Trunk zu verbinden, verkündete einer der Diener, dass an Getränken jetzt nichts anderes mehr vorhanden sei als das, was in einer kleinen Flasche aufbewahrt werde. Von diesem könnte aber jedem von ihnen eher zum Kosten als zum Trinken gereicht werden. Jene aber gedachten der Wunder des Herrn, wie er mit wenigen Broten zahlreiche Menschenmengen gespeist habe und ließen von dem wenigen, was sie hatten, an alle Anwesenden liebevoll austeilen. Wunderbarerweise begann in dem Gefäß die Flüssigkeit dergestalt zu wachsen, dass sie trotz fortdauernden Ausschenkens um nichts vermindert zu werden schien, bis die Trinkenden durch die Menge der Becher besiegt wurden. Erstaunt ob der Neuheit der Sache brachten sie Gott, dem Herrn und Geber alles Guten, der ihnen so wunderbarerweise Genüge getan, die schuldigen Dankes- und Lobeserhebungen dar, und sogleich nahm mit der Fortsetzung ihrer Reise der Trank in dem Gefäß ein Ende. Und als sie in dem Hafen der ersehnten Küste eingelaufen waren, verkündeten sie den Brüdern, welche ihnen unter Lobpreisungen Gottes entgegeneilten, das Geschehene der Reihe nach, freuten sich in Gemeinschaft, übertrugen den Leichnam des heiligen Mannes mit großer Ehre zum Kloster und setzten ihn zwischen dem Altar des heiligen Johannes des Täufers und der Wand in einem Sarkophag bei. Dort erachtete es später der Herr für würdig, unter Mitwirkung der Verdienste des Heiligen erwähnenswerte Wunder kundzutun.

(10) Ein Taubstummer wird an seinem Grab geheilt.
Einstmals kam ein Taubstummer mit anderen, welche aus benachbarten Orten der Andacht wegen zum Kloster wallfahrteten. Weil dieser von Kindheit an der Sprache und des Gehörs entbehrte, trug er zwei vom Hals herabhängende Tafeln, durch deren Zusammenschlagen und Schall er um eine Gabe der Barmherzigkeit flehte, was er mit dem Mund nicht konnte. Er betrat mit seinen Begleitern die Kirche, ging, als er sah, dass sie nach dem Brauch der Armen kleine Wachsstückchen auf die einzelnen Altäre legten, zu dem Grabe des Mannes Gottes, legte seine Tafeln auf dasselbe und warf sich gleichsam zum Gebet vor ihm nieder. Sofort ward er von einem tiefen Schlaf befallen und sah, wie er nachmals erzählte, einen Greis mit leuchtendem Antlitz und herrlichem mönchischem Gewand gleichsam aus dem Grabmal hervortreten und zu ihm sprechen: »O Mensch, warum wirst du hier vom Schlaf überwältigt?« Und da er auf diese Frage durchaus nichts antworten konnte, sprach der Alte zu ihm: »Steh auf und wisse, dass ich die Heilung der Beschwerlichkeiten, an welchen du bis jetzt gelitten hast, für dich erlangt habe. Lass deine Tafeln dort liegen, verlasse sofort das Kloster und erzähle niemandem an diesem Ort von dem Geschenk, welches dir von Gott verliehen wurde.« Er wachte auf, erhob sich, verließ eiligst das Kloster und kehrte, da sich der Tag schon zum Abend geneigt hatte, in der Wohnung eines gewissen mächtigen Mannes namens Ratgoz ein. Dieser fragte ihn, woher er käme, und jener teilte ihm der Reihe nach mit, wo, wann und wie er das Geschenk der Gesundheit erlangt hätte. Aber dieser glaubte seiner Erzählung nicht und befahl, ihn festzunehmen und zu bewachen; er selbst wollte die Wahrheit der Sache sicherer erkunden, begab sich noch in derselben Nacht zum Kloster und fand die Tafeln, welche auf das Grab gelegt waren. Als er auch die Gefährten des Gesundeten antraf, welche von dieser Sache durchaus noch nichts erfahren hatten, forschte er bei ihnen recht fleißig, ob sie solch einen Menschen auf dem Weg nach dem Kloster in ihrer Begleitung gehabt hätten. Sofort entnahm er aus ihrer Mitteilung, dass das, was er zuhause gehört habe, wahr sei: dieses wurde auch schnell den Anwesenden kund und gelangte in einem wahrheitsgetreuen Bericht zu uns.

(11) Wie an demselben Ort ein himmlisches Licht erschien.
Während ein Priester aus der Kongregation selbst namens Tanco in ebenderselben Kirche das Amt eines Küsters versah, ging er gewöhnlich zur Zeit der nächtlichen Ruhe in sie hinein, um die Lichter im Stand zu erhalten, und fand zu drei Malen fast alle ausgelöscht. Beim Grab des heiligen Mannes aber erblickt er eine brennende Wachskerze, und da er wusste, dass der Glanz jenes Lichtes vom Himmel her bewirkt werde, wagte er es nicht, es auszulöschen. Als er aber fortging, verschwand auch das Licht von selbst, welches von selbst gekommen war. Dort glänzte auch als Wahrzeichen eines größeren Wunders das Feuer wie gewöhnlich auf der Kerze, aber das Wachs schien durch diese Flamme gar nicht vermindert zu werden. Dieses pflegt derselbe ehrwürdige Priester öfter in seiner Erzählung zu behaupten und beseitigt jeden Grund zum Zweifel an dem Ereignis durch den Beweis der Wahrheit.

(12) Wie leicht jemand, den man wegen eines Sturzes aufgegeben hatte, dort genesen ist.
Einstmals auch, als man die wegen Alters verfallene Bedachung derselben Kirche notgedrungen wiederherstellte, stürzte einer der Hörigen des Klosters, durch die Last der Ziegel, welche er zum Dachfirst der Basilika tragen sollte sehr beschwert, von der Höhe des Daches auf das Grab des Mannes Gottes. Und bald bedeckte ihn infolge des unglücklichen Sturzes selbst eine andere gewaltige Last von Holz, welche durch die Berührung des Fallenden in Bewegung gesetzt war. Die dabei Stehenden liefen hinzu, um ihm, den sie schon tot glaubten, die letzten Ehren zu erweisen. Nachdem die Holzlast fortgeschafft worden war, lag er eine Zeit lang da, ohne irgendeine Bewegung der Glieder. Darauf aber holte er unter langen Seufzern Atem, stand gesund ohne jedwede Verletzung auf und kehrte voller Freude zu seiner Arbeit zurück. Bei diesem Wunder erglänzten ohne Zweifel die Verdienste des heiligen Vaters, da sowohl die Höhe des Daches, aus welcher der erwähnte Mann herabgefallen war, nicht weniger als vierzig Fuß von der Erde entfernt war, als auch das dem Stürzenden nachfolgende Gewicht, welches zur Erdrückung vieler Menschen hingereicht hätte, den jählings Fallenden wohl bedecken, aber nicht zerschmettern konnte.

(13) Ein Gichtbrüchiger erhält seine Gesundheit wieder.
Ein andermal kam ein Blinder an, welcher in dem für die Notdurft der Armen hergerichteten Spital Aufnahme fand. Als er in derselben Nacht in die Kirche gehen wollte, verweigerte ihm der kleine Knabe, der ihn hatte geleiten müssen, wegen der strengen Kälte seinen Dienst. Den Blinden schmerzte es sehr, dass er einer so großen Feier nicht beiwohnen könnte – es waren nämlich die Vigilien eines Sonntags. Ein junger Mensch aber, der an allen Gliedern so gelähmt war, dass er nicht anders als auf den Händen kriechend sich von einem Ort zum andern bewegen konnte, hatte Mitleid mit dem Schmerz des Blinden, kroch aus dem Bett und lenkte, so gut er es vermochte, die Schritte desselben. Sobald sie die Kirche betraten, kamen sie durch einen nützlichen Irrtum zum Grab des heiligen Otmar. Denn es glaubte der gefällige Führer des Blinden in dem Winkel selbst eine Öffnung zu finden, durch welche sie in die bei jenem Ort befindliche Krypta gehen könnten. Als er daher unvermutet an den Sarkophag des Mannes Gottes stieß, weil er ein wenig über den Boden hervorragte, sprang er plötzlich zurück, stürzte alsbald zur Erde nieder und erfüllte die Räume der ganzen Kirche mit fürchterlichem Geschrei. Der Blinde aber, als er dieses Geschrei hörte, glaubte, sein Führer sei wahnsinnig geworden und bemühte sich nach Kräften davonzulaufen. Weil aber der barmherzige Gott, der Urheber und Liebhaber alles Guten, gesehen, dass der schwache Knabe über seine Kräfte hinaus ein Werk der Liebe hatte verrichten wollen, so würdigte er sich, dessen Willfährigkeit unter Berücksichtigung der Verdienste des seligen Otmar durch das Geschenk der Gesundheit zu belohnen. Denn plötzlich wurden die Glieder des Lahmen in die rechte Lage zurückgeführt, und er geleitete den Blinden, welchen er kurz vorher auf den Händen kriechend zur Kirche geführt hatte, mit schon gefestigten Schritten durch die übrigen Andachtsorte in demselben Umkreis. Und weil er hierauf eine Zeit lang in dem Kloster verweilte, so teilte er auch allen, welche diesem Ereignis weniger nahe gewesen waren, es selbst mit, so dass keiner hierüber einen Zweifel hegen konnte.

(14) Wachs in Stein verwandelt.
Einer von den Schulknaben stahl diebischerweise von demselben Grabmal Otmars ein Stück Wachs. Als er aber zu seiner Zelle zurückkehrte und seine Tat für geringfügig hielt, erkannte er, sogleich von Gottes offenbarer Strafe betroffen, den Irrtum seiner Verblendung. Denn da er ebenjenes Stück aus seinem Busen hervorzog, fand er dasselbe in Steineshärte verwandelt. Und weil er mit seiner Verwegenheit Verstocktheit verband, verbarg er lange diese Begebenheit vor der Kenntnisnahme aller, mit Ausnahme dessen, der auch schon damals hiervon wusste und aus der Zeit jenes Wunders, welches wir eben erzählt haben, als ein sehr treuer Berichterstatter vorhanden ist.

(15) Einem Kleriker werden seine Hände wiederhergestellt.
Zu einer anderen Zeit kam ein Kleriker, dem der Gebrauch beider Hände auf eine bedauernswerte Weise versagt war. Denn die Finger waren zu einer Höhlung zusammengebogen und die Nägel bis auf die Knochen der flachen Hand eingedrungen. Ununterbrochen plagten den Elenden sehr große Schmerzen dergestalt, dass auch einige in Fäulnis übergegangene Teile der Hände einen gewaltigen Gestank weithin verbreiteten. Als derselbe nicht fern von dem Grabe des seligen Mannes stand, fingen plötzlich seine Finger an, einzeln der Reihe nach sich aufzurichten und zu den entsprechenden natürlichen Verrichtungen zurückzukehren. Er aber, der über das erlangte Geschenk der Gesundheit sich hätte freuen sollen, bezeugte die Größe seines Schmerzes durch ein furchtbares Geschrei. In derselben Stunde waren seine Hände vollständig wiederhergestellt, und geheilt ging er hierauf von dannen.

 (16) Wie dasselbe Grab bei dem Niederreißen der Kirche unbeschädigt blieb, und wie man die Reliquien des heiligen Mannes an einen andern Ort übertragen hat.
Was neulich ferner bei dem Grab des heiligen Mannes geschehen ist, als die Kirche des seligen Gallus des Wiederaufbauens wegen abgebrochen wurde, glauben wir nicht durch Stillschweigen unterdrücken zu dürfen. In derselben befand sich nämlich neben dem Altar des seligen Johannes des Täufers eine Truhe in der Nähe der Wand aus kleinen Steinen und Mörtel auf den vier Seiten errichtet, welche oben mit drei oder vier Finger breiten Täfelchen bedeckt war, die man in Querreihen nebeneinander gesetzt und mit Kalk überstrichen hatte. In dieser ruhte der Leichnam des oft genannten Mannes, ein wenig vom Boden erhöht, nur auf einem untergeschobenen hölzernen Brett. Viele nun meinten, dass der Körper des heiligen Vaters unter der Erde beigesetzt, die aufgerichtete Truhe aber nur zur Bezeichnung des Begräbnisplatzes ausgesonnen sei, und weil sie deshalb glaubten, dass das Grab unverletzt bleiben könne, griffen sie die Mauern der Kirche mit Maschinen an und bewirkten durch häufige Stöße des Mauerbrechers ihren Einsturz. Obgleich diese überall von großer Höhe waren und durch die gewaltigen Kräfte der Maschinen fast gleichzeitig zusammenbrechend auf das Grab des Mannes Gottes stürzten, so verletzten sie wunderbarerweise doch kein Stückchen der Truhe. Nach Wegräumen des Schuttes fand man dieselbe in allen Teilen so unversehrt, als wenn sie von keiner Gewalt der stürzenden Mauern berührt worden wäre. Als später jemand unvorsichtig einen nicht gar großen Stein auf dieselbe warf, brach sie plötzlich teilweise zusammen. Man erkannte nun, dass in ihr die Reliquien des heiligen Vaters aufbewahrt wurden, übertrug sie von dort mit großen Ehren und setzte sie in der Kirche des heiligen Petrus hinter dem Hochaltar bei.

(17) Welche Erscheinung in demselben Bethaus einem Bruder kundgeworden ist.
Nach Verlauf von wenigen Tagen betrat ein Bruder noch vor Beginn der nächtlichen Vigilien dasselbe Oratorium des Betens wegen in einer Nacht. Ganz im Gebet hingegossen richtete er seinen Blick nach dem Altar und sah, ich weiß nicht welch eine Person zur Rechten des Altars im Glanz englischen Lichtes stehen, angetan mit glänzendem priesterlichem Gewand, das Antlitz gegen Osten gewendet und durch die Haltung des Körpers die tiefste Andacht bekundend. Er versicherte, dass die Kleider so großen Glanz ausgeströmt hätten, dass sie die Blicke der menschlichen Schwachheit blendeten. Lange betrachtete er dieses, und als er in ängstlichen Seelenzweifeln erwog, ob er näher herangehen solle, verschwand die erschienene Person und ließ ihn von Wunder und Staunen betroffen zurück. Es ist also nicht unglaublich, dass eben derselbe ehrwürdige Mann durch dieses Gesicht seiner Anwesenheit hat offenbaren wollen, dass die Sorge der Brüder um seine Übertragung auf eine würdige Weise wiederholt sei. 

Hier endet das Buch über das Leben und die Tugenden des hl. Otmar.


Aus Isos Schrift über die Wunder des hl. Otmar

Erstes Buch

(2) Durch solche Wunderzeichen also verherrlicht ruhte der Mann Gottes Otmar hinter dem Hochaltar des heiligen Petrus, wo er ehrenvoll bestattet war, 34 Jahre und 194 Tage in Frieden. Aber der allmächtige Gott wollte das durch gute Werke angezündete und durch die Nachlässigkeit der Menschen lange im Verborgenen gestandene Licht zum Beispiel und zur Aufklärung der Gläubigen auf den Leuchter stellen, und durch den Glanz seiner Heiligkeit allen im Haus Gottes Weilenden die Gnade seiner Erleuchtung gewähren. Da begann die Vereinigung der Brüder im Kloster des heiligen Gallus, welche Christus unter geregelten Vorschriften demütig dienten, häufige Wechselgespräche über die Vortrefflichkeit der Verdienste des Heiligen zu haben. Indem die Brüder durch derartige Unterredungen einander aufmunterten, fingen alle nach göttlichem Willen, wie wir glauben, insgesamt zu wünschen an, dass der Leichnam des heiligen Mannes zur Kirche des seligen Gallus, welche jetzt schon unter Beihilfe Gottes in freundlichem Schmucke strahlte [die neue Kirche war 835 eingeweiht], wieder zurückgebracht werde. Da sie dies aber aus gerechten Gründen nicht nach eigenem Gutdünken vollführen wollten, überreichten sie die Lebensbeschreibung desselben, welche durch die Sorgfalt unserer Vorgänger nach vielfachen Zeugenbeweisen vor langer Zeit verfasst [vom Diakon Gozbert, überarbeitet von Walahfrid] auf uns gekommen war, dem ehrwürdigen Bischof Salomo [von Konstanz, 839-871] zum Lesen. Sie eröffneten ihm den sehnlichen Wunsch, von welchem die ganze Kongregation des Ortes erglühte und waren bereit, in allem seinen Urteilen und Ratschlägen zu gehorsamen. Der wohlwollende Bischof durchsah die Beispiele seines Lebens und zollte vielfache Danksagungen dem Urheber alles Guten dafür, dass er seinen Krieger, der tapfer für den Eifer der Gerechtigkeit kämpfte, durch so offenbare Wunderbeweise gekennzeichnet habe. Obgleich jeder Skrupel eines Zweifels beseitigt und er von der Heiligkeit jenes überzeugt war, so wollte er doch nicht unbedachtsam und nicht aus sich selbst ordnungswidrig durch sein Ansehen allein entscheiden. Sondern nach seiner Weise sich klugen Rates bedienend, sagte er wegen kirchlicher Glaubenssätze die jährliche Synode feierlich an und befahl den Priestern und Diakonen und den Klerikern verschiedener Orden, in der Stadt Konstanz zusammenzukommen. Als sie versammelt waren, erhob sich inmitten derselben der ehrwürdige Bischof und erzählte den Zeitumständen gemäß vor allen nach entstandener Ruhe das heilige Leben Otmars, welches schon viele dort Anwesende durch das liebliche Gerücht ein wenig gewonnen hatte, kurz nach Maßgabe der Zeit. Hierauf brach die sehr große Anzahl der Kleriker in das Lob des Mannes Gottes aus. Der Bischof ermahnte zuerst den Abt des Reichenauer Klosters [Heito, von 864-871], welcher auch damals mit einigen uns sehr teuren Brüdern dorthin geeilt war, und dann den gesamten Klerus jener Versammlung, dass sie ein dreitägiges Fasten anstellen und zur Quelle alles Guten gemeinschaftlich beten sollten, damit Er durch das Geschenk der Frömmigkeit sie würdig erachtete, in dieser Angelegenheit die Anordnung seines Willens zu vollbringen. Nach diesen Worten lobt die Versammlung die Ansicht des Bischofs und erklärt laut, dass sie willig so handeln werde.

(3) Und als nun so die Versammlung geschlossen und das dreitägige Fasten beendet war, kam der ehrwürdige Bischof mit den Seinigen zu dem Kloster und begab sich zu unserem Herrn Grimald, dem Vorsteher desselben [von 841-872] und Erzkaplan des Königs Ludwig, um über jene Angelegenheit zu verhandeln. Sie begrüßten sich freundschaftlich und besprachen in Wechselreden das strenge Leben Otmars und die Wunder, welche zum Beweis seiner Heiligkeit häufig geschehen waren. Dann ließen sie die Mönche des Klosters zusammentreten und, indem sie mit ihnen vereint saßen, beschlossen alle in gleichem Wunsche und gemeinschaftlicher Beratung einstimmig, den heiligen Leichnam aus dem Grabmal, in welchem er bis dahin gelegen, zu erheben und in die Kirche des heiligen Gallus zu übertragen. Auch der ehrwürdige Abt Grimald, merkend, dass einiger Gemüter von Angst und Furcht bewegt seien, kräftigte von größerem Vertrauen als die Übrigen beseelt durch Trost die Schwachen. Er belehrte durch den Eifer väterlicher Zuneigung die Herzen der Furchtsamen, indem er behauptete, es geschehe auf Anordnung des göttlichen Willens, dass so viele es sehnlichst wünschten, den Leichnam des heiligen Mannes aus dem jetzigen Grabmal fortzuschaffen. Als der treffliche Bischof aber den Abt so zuversichtlich in dieser Angelegenheit verfahren sah, nahm er den Dekan Hartmut [unter Grimald Verwalter, dann von 872-883 Abt des Klosters] samt den übrigen Brüdern zu sich, ging zum Grab, ließ den über dasselbe gedeckten Stein fortheben und den Totenschrein, in welchem der Schatz des kostbaren Körpers lag, öffnen.

[Es folgt die feierliche Übertragung und Bestattung an der rechten Seite des Altars; dann eine chronologische Übersicht, welche nichts Neues enthält.]

(5) – – – Als dann zehn Jahre verflossen waren, wurde er von seinen Mönchen zum Kloster übertragen und zwischen dem Altar des heiligen Johannes des Täufers und der Wand auf der rechten Seite des Altars mit allen Ehren der Kirche anvertraut. Endlich, nach Verlauf von nicht weniger als sechzig Jahren, am 15. April, dem heiligen Rüsttag des Osterfestes, wurde er zum Bethaus des heiligen Petrus überführt. Im 35. Jahr aber hierauf, nach der Geburt des Herrn im 864sten, der 13. Indiktion, vollzog unter dem allerfrömmsten König Ludwig der Erzkaplan des Königs und Abt dieses Klosters Grimald mit Salomo, dem Bischof der Konstanzer Kirche, am Mittwoch, den 25. Oktober die Übertragung, welche wir oben beschrieben haben. Soviel wir durch eifriges Studium erforschen konnten, werden vom siebten Jahr Pippins, in welchem der heilige Mann aus der Not dieser Zeitlichkeit schied, bis zu dieser Beisetzung einhundertvier Jahre gezählt.

Zweites Buch

(2) Da seit der oben erwähnten Übertragung beinahe drei Jahre verflossen und durch den frommen Eifer der Bauleute die Kirche des heiligen Otmar schon vollendet war, bat unser Herr Grimald, Erzkaplan des Königs Ludwig, den vorgenannten Bischof der Konstanzer Kirche, dass er nach dem Kloster komme und die Feier der Einweihung vollziehe.

Weil nun den umwohnenden Völkern durch das verbreitende Gerücht bekannt geworden war, dass der Heilige aus der Kirche des heiligen Gallus in sein Bethaus übergeführt werden solle, wollten sie bei der frommen Bestattungsandacht zugegen sein und fingen an haufenweise dem Kloster zuzuströmen. Der Bischof aber kam am festgesetzten Tag, weihte feierlich die Kirche unter jenes Namen, begab sich dann zu den Gliedern des geheiligten Körpers und entnahm davon einige Teile zur späteren Verschenkung von Reliquien. Die übrigen aber wickelte er mit eigener Hand ehrfurchtsvoll ein und legte sie in eine neue Truhe. Jene Oblaten auch, von denen wir oben erzählt haben, dass sie in dem Grabmal des Heiligen gefunden seien, bewunderte er wegen ihrer guten Erhaltung und vollständigen Unverletztheit, umhüllte einige von ihnen und legte sie auf die Brust des Heiligen, die andern aber verschloss er in einer Büchse und befahl, sie den kommenden Zeiten als Beweis seiner Heiligkeit zu erhalten. Nachdem wir hierauf uns alle feierlich mit den heiligen Gewändern geschmückt, hieß der Bischof nach laut gesprochenem Gebet die nebenstehenden Geistlichen den Mann Gottes erheben und hinaustragen. Ohne Verzug wird der Heilige mit Kreuzen, Wachskerzen und Rauchgefäßen aus der Kirche geleitet und in ebendieser Stunde ein Stummer durch die Verdienste desselben, wie wir glauben, mit dem Vermögen zu sprechen beschenkt. Seine Person war aber ärmlich und deshalb uns bis dahin unbekannt geblieben. Und so stellten wir uns anfänglich, als ob wir das Wunder nicht glaubten, welches nach seiner Erzählung an ihm geschehen sein sollte; da er jedoch behauptete, dass er aus dem Aargau stamme, erfuhren wir von seinen Eltern und andern, welche ihn wohl kannten, auf unsere Erkundigungen, dass es wahr sei.

Hierauf sangen wir alle Lobgesänge und Lieder und folgten in Begleitung einer zahlreichen Volksmenge mit schuldiger Verehrung dem Leichnam des teuren Vaters. Auf der Wiese [heute Brüel] aber, welche gegen Osten liegt, hielten wir ein wenig unser Hinschreiten auf, warfen uns zur Erde nieder und brachten unsere Ehrenbezeugungen dar. Dann erhoben wir uns wieder und begannen einzeln der irdischen Hülle des Heiligen nahezutreten und die darübergebreiteten Decken in demütiger Andacht zu küssen. Nach dieser Handlung begaben wir uns mit der größten Ehrerbietung zum Kloster, führten die heiligen Reliquien in seine Kirche und brachten unter schuldigem Lobe Gott unsern Dank dar, der es für würdig achtete, so große Freude uns zu verleihen. Welche Tränenströme der Fröhlichen und welch großes Schluchzen der Jauchzenden dort sich kundgab, vermögen wir nicht zu erzählen, da wir selbst nicht das durch häufiges Schluchzen unterbrochene Lob Gottes ohne Tränen vorbringen konnten. Besonders war unser ehrwürdiger Vater Grimald, von der Freude der Frohlockenden bewegt, nicht im Stande, sich der Tränen zu enthalten und dankte Gott, dass er verdient habe, zu seinen Zeiten an diesem auch ihm anvertrauten Ort eine so große Zierde und so große Wohltaten des allmächtigen Gottes zu schauen. Um diese Freude noch mehr zu erhöhen, kam der Abt von Reichenau mit einigen Brüdern desselben Klosters unvermutet in ebenjener Stunde; auch waren Brüder des Klosters, welches Kempten genannt wird, von ihrem Abt gesendet und freuten sich, an einer derartigen Feier und solchen Freuden teilzunehmen. Der Bischof verschloss unterdessen die heiligen Überreste des frommen Vaters in einer steinernen Truhe und setzte sie unter dem Altar bei. Und nachdem er hierauf ein feierliches Messamt abgehalten hatte, segnete er das Volk und entließ es.

Dieses ist aber geschehen im Jahr der Menschwerdung des Herrn 867 unter dem allerfrömmsten König Ludwig, als die obenerwähnten Würdenträger durch ihre Verwaltung des Hirtenamtes die Sorge für die Kirchen Gottes eifrig übten, am Mittwoch, den 24. September, der ersten Indiktion. Damit die Ehre des seligen Mannes weiter vermehrt würde, nahm der erwähnte Bischof am folgenden Tag von den Reliquien desselben, welche er, wie oben erzählt ist, dieses Zweckes wegen beiseitegelegt hatte, zuerst einen Teil für sich. Dann übergab er dem Abt von Reichenau und den Brüdern von Kempten und besonders den übrigen Mönchen und ehrwürdigen Männern einige Partikel derselben, wie es ihm gut schien, indem er in unserer Gegenwart alle ernstlich ermahnte, dass sie für eine ehrbare und würdige Behandlung derselben in allen Stücken Sorge tragen sollten. Hierauf weihte er die Kirche des seligen Erzengels Michael ein, salbte viele mit dem heiligen Öl, grüßte die Brüder und schied fröhlichen Herzens mit den Seinigen vom Kloster. Am andern Tag aber begleiteten wir den Abt von Reichenau und die Brüder aus Kempten unter Lobgesängen und Liedern außerhalb des Klosters und verstatteten ihnen, nachdem wir noch Gespräche brüderlicher Liebe gepflogen und den Kuss des Friedens einander gegeben hatten, in die Heimat freudenvoll zurückzukehren.

[Unter den noch folgenden Wundergeschichten ist hervorzuheben die Erwähnung einer blinden Nonne aus Basel].

Literatur

Borst, Arno, Mönche am Bodensee. 610-1525, Sigmaringen 1997.

Duft, Johannes (Hg.), Sankt Otmar. Die Quellen zu seinem Leben, Lateinisch und deutsch, Zürich/Lindau/Konstanz 1959 (Bibliotheca Sangallensis 4).

Duft, Johannes, Sankt Otmar in Kult und Kunst. I. Teil: Der Kult, in: Neujahrsblatt des historischen Vereins des Kantons St.Gallen 105 (1965), S. 1–59.

Duft, Johannes, Sankt Otmar in Kult und Kunst. II. Teil: Die Kunst, in: Neujahrsblatt des historischen Vereins des Kantons St.Gallen 106 (1966), S. 1–75.

Duft, Johannes, Die Lebensgeschichten der Heiligen Gallus und Otmar, St.Gallen/Sigmaringen 1990.

Duft, Johannes, Der Zönobit Sankt Otmar († 759). Die Quellen zum Otmars-Leben, in: ders. (Hg.), Die Abtei St.Gallen. Band II. Beiträge zur Kenntnis ihrer Persönlichkeiten. Ausgewählte Aufsätze in überarbeiteter Fassung von Johannes Duft, Sigmaringen 1991, S. 39–49.

Duft, Johannes; Gössi, Anton; Vogler, Werner, Die Abtei St.Gallen. Abriß der Geschichte, Kurzbiographien der Äbte, Das stift-sanktgallische Offizialat, St.Gallen 1986.

Gagesch, Erich Georg, Otmar. Vater der Armen, Singen 2009.

Good, Rudolf, Geschichte der Reliquien der hl. Gallus und Othmar, Patronen des Bisthums St.Gallen. Nebst beigefügten kurzen Lebensbeschreibungen und einigen Andachten, St.Gallen 1849.

Henggeler, P. Rudolf, Professbuch der fürstl. Benediktinerabtei der Heiligen Gallus und Otmar zu St.Gallen, Einsiedeln 1929 (Monasticon-Benedictinum Helvetiae 1).

Huber, Johannes, Entlang der Fürstenland-Strasse. Die Kulturlandschaft der Abtei St.Gallen, St.Gallen 2008.

Knoepfli, Albert; Sennhauser, Hans Rudolf, Zur Baugeschichte von Sankt Otmar auf Werd, in: Alfred A. Schmid (Hg.), Corolla Heremitana. Neue Beiträge zur Kunst und Geschichte Einsiedelns und der Innerschweiz, Olten/Freiburg i. Br. 1964, S. 39–80.

Lenz, Philipp, Reichsabtei und Klosterreform. Das Kloster St.Gallen unter dem Pfleger und Abt Ulrich Rösch 1457-1491, St.Gallen 2014 (Monasterium Sancti Galli 6).

Mühlbacher, P. Pius, Priesterseminar für Ordensleute. Tangaza College in Nairobi, in: Missionsblätter der Benediktiner-Missionare Uznach 113/5 (2009), S. 85–86.

Ochsenbein, Peter; Schmuki, Karl, Sankt Galler Heilige. Handschriften und Drucke aus dem 8. bis 18. Jahrhundert, Führer durch die Ausstellung in der Stiftsbibliothek St.Gallen (24. November 1987 bis 31. Oktober 1988), St.Gallen 1988.

Schär, Max, Sankt Galler Bauten der Gallus- und Otmarzeit (7. und 8. Jahrhundert), in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 65/4 (2008), S. 269–286.

Schär, Max, St. Gallen zwischen Gallus und Otmar 640-720, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 102 (2008), S. 317–359.

Vetter, Ferdinand, Sankt Otmar, der Gründer und Vorkämpfer des Klosters Sankt Gallen, in: Jahrbuch für schweizerische Geschichte 43 (1918), S. 91–193.

Kennen Sie noch weitere Literatur zu Sankt Otmar von St.Gallen? Helfen Sie mit, indem Sie uns diese mitteilen. Vielen Dank!

Stand: Dezember 2018