Sogn Gagl (Medel)

In der Kapelle Sogn Gagl ist noch viel Bausubstanz aus dem 11./12. Jahrhundert erhalten. Sie wurde damals vom Kloster Disentis als Hospizkapelle am Lukmanierpass errichtet. (2015)
Im Jahr 1668 wurde die Galluskapelle renoviert und das Hospizgebäude neu errichtet. Gegen den Berghang hin wurde dieser Bau mit einem Lawinenbrecher aus Steinen geschützt. Das Hospiz wurde später in eine Alphütte umfunktioniert. (2015)
Das Hospiz Sogn Gagl liegt bei Medel, etwa 14 Kilometer von Disentis und sechs Kilometer von der Lukmanier-Passhöhe entfernt. Die heutige Passstraße verläuft etwas oberhalb der alten Kapelle. (2015)
Neben der Kapelle Sogn Gagl fließt ein unscheinbarer Bergbach vorbei. Er wird sich 1200 Kilometer später in die Nordsee ergießen. (2015)
Sogn Gagl am Lukmanier ist die erste Galluskirche am Rhein. (2015)
Mitte April 2010 wurde die1583 gegossene Glocke der Sankt Gallus-Kapelle gestohlen. Sie trug eine Inschrift nach Ez 33,11: SO WAR ICH [LEBE] SPRICHT GOT DER HERR DES SÜNDERS DOT ICH NIT BEGER SONDER FIL LIBER IST MIR DAS ER SICH BEKER. Vielleicht besinnt sich ja auch der Dieb noch… (2015)
Im Innenraum der Kapelle Sogn Gagl gäbe es Wandmalereien aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu bestaunen. Die Türe ist allerdings meistens abgeschlossen. (2015)

Der Lukmanierpass, der die bündnerische Surselva mit dem Tessiner Bleniotal verbindet, zählt zu den landschaftlich schönsten Alpenpässen der Schweiz. An seinem nördlichen Einstieg entstand bereits im 8. Jahrhundert die Benediktinerabtei Disentis, die bis heute existiert. Mit der Klostergründung wuchs auch die Bedeutung des Passes, der im Hochmittelalter seine Blütezeit erlebte.

Aus dem Frühmittelalter gibt es praktisch keine Zeugnisse zum Passverkehr. Die erste gesicherte Überquerung ist jene Ottos des Großen im Januar 965, doch dürfte der Lukmanier schon im 9. Jahrhundert ein beliebter Nord-Süd-Übergang gewesen sein. Die topographisch nicht allzu anspruchsvolle Route bot auf dem Gebiet der heutigen Schweiz die einzige Möglichkeit, die Alpen auf unter 2’000 Metern zu überqueren: Die Passhöhe des Lukmaniers liegt 1’915 Meter über Meer. Klöster und Klerikergemeinschaften, die durch Gebetsverbrüderungen miteinander verbunden waren, säumten den Weg und sorgten für die Reisenden. Eine eigentliche ›Mönchsstraße‹ führte von den Klöstern Reichenau und St.Gallen über Pfäfers, Disentis und Biasca Richtung Italien. Die Bodenseeklöster pflegten ihre italienischen Beziehungen wohl hauptsächlich über den Lukmanier.

Dem Kloster St.Gallen gehörte seit 883 die kleine Abtei Massino am Westufer des Lago Maggiore. Der St.Galler Chronist Ratpert bezeichnet sie in seinen Casus Sancti Galli als olearum et vinearum feracem, als »reich an Olivenhainen und Weinbergen«. König Karl III. (der Dicke) hatte Massino dem Kloster St.Gallen in einem symbolträchtigen Akt übertragen. Er ließ die Schenkungsurkunde nach ihrer Besiegelung auf den Altar des heiligen Gallus legen. Die Kommunikation mit Massino, das dem Kloster St.Gallen gemäß Schenkungsvertrag von 883 einen Ertrag von sechs Fässchen Öl oder 60 Silber-Solidi einbrachte, dürfte über den Lukmanier erfolgt sein.

Die Bedeutung, die der Lukmanierpass für den norditalienischen Besitz des Klosters St.Gallen hatte, zeigt sich auch im Lehensvertrag, den der St.Galler Abt Werinher im März 1134 mit Guido Visconti schloss. Diesem Mailänder Adligen vergabte Werinher den Hof Massino sowie sämtliche dazugehörigen Güter in der Lombardei zu Erblehen. Visconti und seine Erben wurden zu einer ewigen Zinsleistung an das Kloster St.Gallen verpflichtet, die jeweils am Fest Mariä Himmelfahrt (15. August) fällig war. Die Abgabe war bedeutend und umfasste eineinhalb Mark Silber, zwölf Pfund Pfeffer, zwölf Pfund Weihrauch, vier Scheffel Lampenöl sowie hundert Glasampeln. Die Visconti hatten diesen Zins über den Lukmanier nach Disentis und von dort aus weiter nach St.Gallen zu senden. Von Disentis bis St.Gallen begleitete ein Bote des Klosters Disentis den Boten der Visconti. Im Februar/März 1142 bestätigte König Konrad III. auf Bitte von Abt Werinher diesen Vertrag auf dem Hoftag in Ulm, wobei er verfügte, dass der Bote der Visconti nur bis Disentis reisen müsse, um dort den Zins einem Boten des Klosters St.Gallen zu übergeben.

Noch zu Beginn des 14. Jahrhunderts leisteten die Visconti dem Kloster St.Gallen den geschuldeten Zins, doch scheinen sie den Vertrag danach nicht mehr eingehalten zu haben. Die Visconti hatten (wohl zwischen 1307 und 1318) eine Urkunde gefälscht, wonach ihnen König Konrad III. Massino geschenkt habe, und sie bestritten fortan ihre Verpflichtungen gegenüber dem Kloster St.Gallen. Dieses beharrte noch bis ins 17. Jahrhundert auf seinem Recht und strengte wiederholt die Restitution der entfremdeten Güter an. Es sollte seinen alten lombardischen Besitz allerdings nie mehr zurückerhalten.

Wahrscheinlich im 11. oder 12. Jahrhundert errichtete das Kloster Disentis wenige Kilometer nördlich der Lukmanier-Passhöhe ein Hospiz, dessen Kapelle bis heute ziemlich ursprünglich erhalten ist. Ihr Patron, Sankt Gallus, wird in einer Urkunde von 1261 erstmals genannt. Er zeugt von der engen Beziehung, die die Abteien Disentis und St.Gallen damals pflegten. Der Disentiser Abt Christian von Castelberg ließ die baufällige Kapelle 1584 renovieren, wobei aber keine größeren Eingriffe in die Bausubstanz erfolgten. 1668 wurde die Kapelle abermals saniert, gleichzeitig wurde das Hospizgebäude von Grund auf neu errichtet.

Das Hospiz Sankt Gallus (Rätoromanisch: Sogn Gagl) dürfte bereits existiert haben, als der Lukmanierpass unter Kaiser Friedrich I. seine »heroische Zeit« erlebte. Dreimal überquerte Barbarossa den Lukmanier persönlich: 1163, 1164 und 1186. Anlässlich seines fünften Italienzugs eilten ihm auf diesem Weg unbemerkt Truppen zu Hilfe. Friedrich I. förderte die Lukmanierroute und mit ihr auch das Kloster Disentis, dem er 1154 zahlreiche Besitzungen im heutigen Tessin und in Norditalien bestätigte bzw. schenkte, darunter die Sankt Gallus-Kapelle von Vergiate. Im Spätmittelalter verlor der Lukmanier allmählich seine Bedeutung. Der Splügen-, der San Bernardino- und insbesondere der Gotthardpass, die einen direkteren, schnelleren Übergang nach Italien ermöglichten, lösten den Lukmanier ab.


Literatur

Büttner, Heinrich, Kloster Disentis, das Bleniotal und Friedrich Barbarossa, in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 47 (1953), S. 47–64.

Eichhorn, Ambrosius, Episcopatus Curiensis, St. Blasien 1797.

Erhart, Peter; Kuratli Hüeblin, Jakob; Oberholzer, Paul, 1400xGallus, St.Gallen 2012.

Gaudy, Adolf, Die kirchlichen Baudenkmäler der Schweiz. Graubünden, Berlin/Zürich 1921.

Müller, Iso, Der Lukmanier als Disentiser Klosterpass im 12./13. Jahrhundert, in: Bündner Monatsblatt 1-3 (1934), S. 1.

Müller, Iso, Zur Besiedlung der Gotthard-Täler, in: Der Geschichtsfreund. Mitteilungen des Historischen Vereins Zentralschweiz 111 (1958), S. 5–35.

Müller, Iso, Die Patrozinien des Fürstentums Liechtenstein, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 59 (1959), S. 301–327.

Müller, Iso, Zur Bedeutung des Lukmaniers im Mittelalter, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 10 (1960), S. 1–17.

Müller, Iso, Glanz des rätischen Mittelalters, Chur 1971 (Kristallreihe 6).

Poeschel, Erwin, Die Kunstdenkmäler des Kantons Graubünden. Band V. Die Täler am Vorderrhein, II. Teil. Schams, Rheinwald, Avers, Münstertal, Bergell, Basel 1943 (Die Kunstdenkmäler der Schweiz 14).

Staerkle, Paul, Von den Sankt Gallus-Patrozinien, in: Bischöfliches Ordinariat und Katholischer Administrationsrat St.Gallen (Hg.), Sankt Gallus Gedenkbuch. Zur Erinnerung an die Dreizehnhundert-Jahr-Feier vom Tode des heiligen Gallus am 16. Oktober 1951, St.Gallen 1952, S. 48–74.

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Stand: Dezember 2017