In Wassen im urnerischen Reusstal wird Gallus – der Reisende – schon seit dem Mittelalter verehrt. Das älteste schriftliche Zeugnis, das ihn als Patron der dortigen Pfarrkirche nennt, stammt aus dem Jahr 1480. Wassen war ein wichtiger Etappenort auf dem beschwerlichen Weg über den Gotthardpass. Es erscheint bereits im 14. Jahrhundert in einem Reiseführer für Pilger. Die Kirche des heiligen Gallus, die auf einer markanten Felskanzel über dem Dorf und dem Tal thront, hat seither vielen Reisenden den Weg gewiesen.
Das ›Chileli von Wassen‹, wie die Galluskirche liebevoll genannt wird, wurde durch die 1882 eröffnete Gotthardbahn weltberühmt. Die Bahnlinie muss in der rauen Tallandschaft rund um Wassen eine Höhendifferenz von 370 Metern überwinden, was die Ingenieure zu einer spektakulären Streckenführung zwang. Mit Hilfe von Kehrtunnels, die nördlich und südlich des Dorfes tief in den Berg gehauen wurden, gewinnen die Züge die nötigen Höhenmeter. Dabei fahren die Reisenden dreimal – jeweils in entgegengesetzter Richtung – an Wassen vorbei. Die Galluskirche präsentiert sich jedes Mal aus einer neuen Perspektive.
Wer seine Reise unterbricht und das Dorf Wassen besucht, merkt, dass das ›Chileli‹ gar kein Kirchlein, sondern eine stattliche barocke Kirche ist. Nur der Turm, der beim Neubau von 1734 von der Vorgängerkirche übernommen wurde, wirkt etwas schmächtig. Vielleicht ist er es, der die Kirche kleiner erscheinen lässt, als sie in Wirklichkeit ist. Er ist es aber auch, der das ›Chileli‹ unverkennbar macht. Die Galluskirche von Wassen ist zum Wahrzeichen der Gotthardstrecke geworden.
Seit der Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels zwischen der Innerschweiz und dem Tessin führt die schnellste Zugsverbindung nicht mehr am ›Chileli‹ von Wassen vorbei. Die eiligen Reisenden bekommen von der grandiosen Streckenführung der alten Gotthardbahn nichts mehr mit; sie rasen ihrem Ziel durch einen 50 Kilometer langen Tunnel entgegen – ohne Aussicht, dafür mit superschneller Internet-Verbindung gegen die Langeweile. Reisende, die den Blick auf die schöne Bergwelt und das ›Chileli‹ von Wassen dem schnellen Fahr- und Surferlebnis vorziehen, kommen im Regionalzug immer noch auf Ihre Rechnung. Und auch die Gotthard-Autobahn führt nach wie vor an Wassen vorbei, doch ist ihre Streckenführung weit weniger attraktiv als jene der alten Gotthardbahn.