Schon die Römer nutzten den Kunkelspass, um von Ragaz durch das Taminatal ins bündnerische Tamins zu gelangen. Der nördliche Passzugang führt durch die Porta Romana und vorbei an einer markanten Felskuppe, auf der laut Archäologen schon im 8./9. Jahrhundert eine Kapelle gestanden haben dürfte. Im 12. Jahrhundert wird ihr Patron erstmals schriftlich erwähnt: Es ist der heilige Georg. Die Kapelle gehörte der um 730 gegründeten Benediktinerabtei Pfäfers, die einen wichtigen Etappenort auf der alten Reichsstraße über den Lukmanier bildete.
Die Pfäferser Sankt Georgs-Kapelle könnte im Frühmittelalter Sankt Gallus als Mitpatron gehabt haben. Dies lässt jedenfalls eine uralte rätoromanische Volksweise vermuten: La Canzun da Sontga Margriata – das Sankt Margaretha-Lied. Es erwähnt in der letzten Strophe eine am Ausgang des Kunkelspasses gelegene Georgs- und Galluskapelle (sogn Gieri e sogn Gagl), bei der es sich um einen Vorgängerbau des heutigen Gotteshauses handeln könnte.
Die Volkskunde datierte das Sankt Margaretha-Lied (das freilich erst im 20. Jahrhundert schriftlich festgehalten und vertont wurde) ins 8. Jahrhundert und bezeichnete es als »grössten und ältesten Schatz der rätoromanischen Oralliteratur«, als »würdiges Nationallied des rätoromanischen Volkes«. Die dem Lied zugrunde liegende Sage trage ursprünglich heidnische Züge, die später – wenn auch sehr unbedarft – von christlichen Elementen überlagert worden seien. Zu diesen christlichen Elementen gehört neben der Georgs- und Galluskapelle auch die Figur der heiligen Margaretha, die freilich keinerlei Bezüge zur Märtyrin Margareta von Antiochien († um 305) aufweist und ihre Herkunft aus der volkstümlichen Sagenwelt kaum verbergen kann:
Margaretha verbringt sieben Sommer lang als Zusenn verkleidet auf der Alp. Wenige Tage vor dem Abzug stürzt sie unglücklich, und ein Hirtenjunge kann ihr wahres Geschlecht erkennen. Obwohl ihn die Frau mit Versprechungen und Drohungen davon abhalten will, verrät der Knabe das Geheimnis dem Sennen. Da flieht Margaretha über den Kunkels hinaus ins Tal, während hinter ihr die Alp vertrocknet und verödet. Als sie auf ihrer Flucht an der Kapelle von Georg und Gallus vorbeizieht, läutet deren Glocke so laut, dass der Klöppel herausspringt.
Die Canzun da Sontga Margriata ist der einzige Hinweis darauf, dass die Pfäferser Sankt Georgs-Kapelle einst auch den heiligen Gallus als Patron gehabt haben könnte. Dürfen wir diesem jahrhundertelang nur mündlich überlieferten Volkslied Glauben schenken? Kann die Sage einen ›wahren Kern‹ haben? Das ist immerhin möglich. Jedenfalls verfügte das Kloster Pfäfers schon früh (spätestens im 9. Jahrhundert) über Reliquien des heiligen Gallus, womit dessen Verehrung grundsätzlich nichts im Wege stand. Zudem pflegten Pfäfers und St.Gallen im Frühmittelalter eine Gebetsverbrüderung, von der das berühmte Pfäferser ›Buch der Lebenden‹, der Liber Viventium Fabariensis, ein eindrückliches Zeugnis ablegt. In diesem Kontext erscheint Sankt Gallus als Patron einer Pfäferser Kapelle durchaus realistisch. Auch in Quarten am Walensee besaß das Kloster Pfäfers seit dem Frühmittelalter ein Gotteshaus, das dem heiligen Gallus geweiht war.
Dass das Galluspatrozinium im Hochmittelalter nicht mehr erwähnt wird und danach offenbar in Vergessenheit gerät, könnte seinen Grund im damals nicht mehr ungetrübten Verhältnis des Klosters Pfäfers zu St.Gallen haben. Im Jahr 909 hatte Salomo, der sowohl Bischof von Konstanz als auch Abt von St.Gallen war, das rätische Kloster Pfäfers dem alemannischen Kloster St.Gallen einverleibt, wogegen sich Pfäfers energisch (und am Ende erfolgreich) wehrte. Der St.Galler Geschichtenschreiber Ekkehard IV. beschreibt die Auseinandersetzung mit dem Kloster Pfäfers in den Kapiteln 25, 70, 73, 77 und 86 seiner Casus Sancti Galli. Auch der Investiturstreit trieb einen Keil zwischen die beiden Klöster. Denn während Pfäfers stets treu auf der Seite des Papstes stand, gehörte St.Gallen zu den wichtigsten Stützen des Kaisertums, was Sankt Gallus zum Inbegriff eines kaiserlichen Heiligen machte. Möglich, dass sich die Differenzen der beiden Klöster auch in der Patrozinienwahl niedergeschlagen haben.
Von der frühmittelalterlichen Kapelle sogn Gieri e sogn Gagl ist heute zwar nichts mehr erkennbar. Sehenswert ist die Pfäferser Sankt Georgs-Kapelle aber allemal. Den Schlüssel kann man sich beim Pfäferser Messmer besorgen.