Bis ins Jahr 1750 mussten die Einwohner von Libingen den Gottesdienst in der über zwei Marschstunden entfernt gelegenen Kirche von Mosnang besuchen. Der Kirchweg war beschwerlich. Er führte durch Täler und über Hügel und war bei schlechter Witterung nicht ungefährlich. Die Libinger wünschten sich deshalb eine ›Kirche im Dorf‹ – eine eigene Pfarrei – und fanden in Josef Helg, dem Kaplan von Mosnang, einen eifrigen Fürsprecher. Ende Oktober 1750 reiste Helg mit einer Libinger Delegation nach St.Gallen, um Fürstabt Coelestin Gugger das fromme Anliegen der abgelegenen Toggenburger Berggemeinde zu eröffnen.
Helg konnte den Fürstabt überzeugen. Coelestin Gugger stimmte dem Bau einer Pfarrkirche zu. Bereits am 21. Dezember 1750 konnte in Libingen die erste Heilige Messe gefeiert werden. Man hatte dazu schleunigst eine provisorische Holzkirche erbaut. Josef Helg wurde zum ersten Pfarrer von Libingen ernannt.
Die Errichtung einer neuen Pfarrei war in der Barockzeit im Herrschaftsgebiet der Fürstabtei St.Gallen an sich keine Besonderheit. Das Kloster hat das Bedürfnis der damaligen Bevölkerung, einen eigenen Seelsorger im Dorf zu wissen, nach Möglichkeit gerne unterstützt. Dennoch nimmt Libingen, wie wir sehen werden, unter den St.Galler Pfarreigründungen des 18. Jahrhunderts eine einzigartige Stellung ein.
Die Bauarbeiten an der neuen Pfarrkirche kamen sehr rasch voran, denn die Libinger Bevölkerung leistete eifrig Frondienste. Bereits am 16. Oktober 1751, also nach weniger als einjähriger Bauzeit, konnte der St.Galler Offizial Hermann Bauz (aus Überlingen) das Gotteshaus einweihen. Kirchenpatron wurde der heilige Landesvater Gallus.
Nach Fertigstellung der Kirche wollte Pfarrer Helg auch noch ein Waisen- und Witwenhaus errichten, wozu ihm die Libinger Bevölkerung erneut ihre Unterstützung zusagte. Da lernte Helg auf einer Bettelreise, die er zur finanziellen Sicherung seines Projekts unternahm, die theologischen und mystischen Werke von Mechtilde de Bar (1614–1698) und Franz von Sales (1567–1622) kennen. Sie veranlassten ihn, statt der geplanten Sozialeinrichtung ein Frauenkloster der Ewigen Anbetung zu gründen. Dort sollte das Allerheiligste Altarsakrament ununterbrochen verehrt werden.
Diese Planänderung stieß in Libingen nicht nur auf Begeisterung. Es gab Befürchtungen, dass ein Frauenkloster für die Gemeinde weniger nützlich sein könnte als ein Waisen- und Witwenhaus. Damals schätzte man freilich auch noch den Wert des Gebetes hoch, und da einige Libinger Frauen sehr an Helgs Gebetsgemeinschaft interessiert waren, konnte am 31. Juli 1754 die Ewige Anbetung mit fünf Jungfrauen aus der Gemeinde beginnen. Das Klostergebäude war damals noch nicht fertiggestellt, weshalb die Schwestern in eine etwas unterhalb der Libinger Galluskirche gelegene Scheune einzogen. Dort lebten sie in unerhörter Armut. Ihre Zellen hatten nicht einmal Fenster! Neben dem Gebet beschäftigten sich die Frauen mit Handarbeit, Unterricht für die Kinder und vor allem dem Herbeischaffen von Steinen, Kalk und Sand für den Klosterbau.
Als der Konstanzer Weihbischof Franz Karl Joseph Fugger von Kirchberg im Jahr 1755 die Pfarr- und gleichzeitig Klosterkirche von Libingen weihte, legte er der Schwesterngemeinschaft nahe, sich einem anerkannten Orden anzuschließen und eine kirchliche Genehmigung für ihre Lebensweise einzuholen. Pfarrer Josef Helg und die Libinger Klosterfrauen bemühten sich in der Folge intensiv um eine Bestätigung ihres Instituts durch den Abt von St.Gallen. Diese sollte jedoch noch fünf Jahre auf sich warten lassen.
Grundsätzlich war das Kloster St.Gallen den Libinger Schwestern der Ewigen Anbetung sehr gewogen. Fürstabt Coelestin Gugger, der ein hervorragender Haushälter war, erkannte jedoch deutlich die Probleme, mit denen die Gemeinschaft konfrontiert war. Noch im Sommer 1760 wies er darauf hin, dass es in Libingen zu wenige Schwestern gebe, um die Ewige Anbetung aufrechtzuerhalten. Andererseits sei aber das Stiftungskapital viel zu klein, um noch mehr Frauen aufnehmen zu können. Das Klostergebäude, das an starkem Wasserdruck leide, sei völlig unzulänglich ausgeführt und der Gesundheitszustand der Frauen teilweise besorgniserregend. Feuchtigkeit, Mangelernährung und ungenügende körperliche Bewegung hätten dazu geführt, dass in sechs Jahren bereits drei Frauen gestorben und sechs »elend« geworden seien.
Trotzdem approbierte der Fürstabt die Klostergemeinschaft am 8. Dezember 1760, nachdem Joseph Helg zusätzliches Stiftungskapital hatte aufstellen und weitere Interessentinnen ins Noviziat hatte aufnehmen können. Coelestin Gugger unterstellte die Libinger Schwestern der Regel des heiligen Benedikt und der Aufsicht der Abtei St.Gallen. Zur Leitung des Klosters, das den Namen ›Neu St.Gallen‹ erhielt, bestellte er zwei erfahrene Frauen aus dem Kloster St.Georgen (bei St.Gallen). Zum Seelsorger der Schwestern berief er Pater Benedikt Pfister von Peterzell.
Mit diesen Personalentscheiden wollte der St.Galler Fürstabt zweifellos eine Stärkung des jungen Klosters Libingen herbeiführen. Nur: Josef Helg, der Gründer und bisherige Leiter der Schwesterngemeinschaft, konnte nicht akzeptieren, dass ›sein‹ Werk nun plötzlich von anderen (vielleicht fähigeren?) Personen geleitet wurde. Obwohl ihm Coelestin entgegenkam und ihn zum »Institutsdirektor« ernannte, setzte sich Helg fortan nicht mehr mit ganzem Herzblut für Libingen ein. Vielmehr gründete er in Gommiswald ein neues Anbetungskloster – Berg Sion – wobei er dem Kloster Libingen Kapitalien entzog. Die Leidtragenden waren die Libinger Schwestern, die sich ihre Existenz jetzt erbetteln mussten. Nur dank Nothilfe aus St.Gallen konnten sie sich und ihr Kloster erhalten.
Jahrelang lebten die Frauen in bitterster Armut. Es grenzt an ein Wunder, dass sich die Gemeinschaft damals nicht auflöste. Das traurige Schicksal des Libinger Konvents bewegte Fürstabt Coelestin Gugger noch auf seinem Sterbebett. Der sonst so erfolgreiche Abt, dem wir unter anderem die prachtvolle barocke Stiftskirche von St.Gallen verdanken, schrieb kurz vor seinem Tod im Jahr 1767 in sein Tagebuch: Ich hab alle Geschäfft Zeit meiner Regierung glükhlichst geendigen können, nur allein das Lübingergeschäfft kann nicht zu Ende gebracht werden und ich muss es ohnausgemachter verlassen. O wie dauern mich meine Lübingischen Kinder!
Coelestins Nachfolger, Fürstabt Beda Angehrn, konnte zwar mit dem aus Libingen geflüchteten Pfarrer Josef Helg einen Vergleich erzielen. Die finanziellen Konsequenzen dieser Einigung hatte freilich wiederum Libingen zu tragen. Doch damit nicht genug: Das unter Helg errichtete Klostergebäude erwies sich als so schlecht gebaut, dass es nahezu unbewohnbar war. Nach seinem Amtsantritt im Jahr 1767 hatte Abt Beda das Kloster Libingen besucht und war von dessen Baufälligkeit entsetzt: Ein Schlaffender hätte also bauen können, schrieb er in sein Tagebuch.
Im Jahr 1768 wurde erstmals eine Umsiedlung des Libinger Anbetungsklosters in Erwägung gezogen. Nach all den Leiden ist es verständlich, dass die Klosterfrauen einen solchen Schritt begrüßten, ja sogar darauf drängten. Die Suche nach einer geeigneten Alternative erwies sich jedoch als schwierig. Zudem fehlte den Libinger Schwestern für die Einrichtung eines neuen Klosters das Geld. Da anerbot sich völlig unerwartet der österreichische Salzhändler Ignaz Anton Neuner, das Kloster der Ewigen Anbetung finanziell zu unterstützen. Der in Hall im Tirol wohnhafte Neuner hatte vom Schicksal der Libinger Schwestern erfahren und überwies 1780 einen großen Betrag, der für die leidgeprüfte Gemeinschaft wie eine Erlösung wirken sollte.
Im gleichen Jahr prüfte das Kloster St.Gallen, ob sich das der Fürstabtei gehörende Schloss Glattburg bei Oberbüren für den Umbau in ein Kloster eignen könnte. Die Abklärungen verliefen positiv. Im Juli 1780 konnten die Umbauarbeiten beginnen. Am 17. November 1781 verließen 19 Frauen Libingen in Richtung Glattburg. Das dortige Kloster existiert bis auf den heutigen Tag.
Die Klosterfrauen waren aus Libingen weggezogen, doch die Sankt Gallus-Kirche blieb im Dorf. Das Gotteshaus ging ins alleinige Eigentum der Pfarrei über. Zur Bestreitung des Unterhalts überließ der St.Galler Fürstabt Beda Angehrn der Gemeinde das dazugehörige Vermögen samt einem beachtlichen Waldbesitz. Als Seelsorger wirkten weiterhin St.Galler Benediktinerpatres in Libingen. Bereits 1782 wurden das baufällige Klostergebäude sowie das Pfarrhaus abgerissen und ein neues Pfarrhaus errichtet.
Nach der Aufhebung des Klosters St.Gallen musste die Pfarrei Libingen auf eigenen Beinen stehen. Sie war arm und wiederholt auf die Hilfe von auswärts angewiesen. Als besonders geschickter Fundraiser erwies sich Johann Künzle, der zwischen 1885 und 1890 Pfarrer von Libingen war. Nicht in der Region, sondern in Belgien (Künzle hatte in Löwen studiert) sammelte er das Geld, mit dem er etwas südwestlich des Dorfes, am Schnebelhornbach, eine Lourdes-Grotte errichtete. 1890 trat Künzle, der aus einer St.Galler Gärtnerfamilie stammte, die Pfarrstelle in Amden an, wo er sich intensiv mit der Kräuterheilkunde auseinanderzusetzen begann. Als ›Kräuterpfarrer‹ sollte Künzle später internationale Bekanntheit erlangen.
Heute beträgt die Reisezeit von Libingen nach Mosnang noch knapp zehn Minuten. Libingen ist auf einer gut ausgebauten Straße bequem und sicher mit dem öffentlichen Verkehr zu erreichen. 1998 haben sich Mosnang und Libingen – zusammen mit Mühlrüti – zu einem Seelsorgeverband zusammengeschlossen. Die Sankt Gallus-Kirche steht zwar noch in Libingen, aber der Pfarrer kommt wieder von auswärts.