Oberstammheim

Die Sankt Gallus-Kapelle von Oberstammheim liegt an schöner Aussichtslage über dem Dorf. Schon in karolingischer Zeit hatte das Kloster St.Gallen hier das erste Gotteshaus errichtet. (2016)
In der Reformation trat Stammheim zum neuen Glauben über. Trotzdem behielt das Kloster St.Gallen seine Rechte im Ort. (2012)
Drohnefoto der Galluskapelle Oberstammheim
Die Sankt Gallus-Kapelle liegt in den Rebbergen von Oberstammheim. Der Wein aus dem Stammertal war für das Kloster St.Gallen sehr wichtig. (2021)
Freskenzyklus in der Galluskapelle Oberstammehim
An der Südwand der Kapelle hat sich ein Freskenzyklus aus der Zeit um 1320 erhalten. Er wurde 1504 durch die Ausbrechung neuer Spitzbogenfenster beschädigt und danach übermalt, kam 1896 bei Restaurierungsarbeiten aber wieder zum Vorschein. (2020)
Fresken Galluskapelle Oberstammheim
An der Nordwand sind noch Teile von zwei Fresken zu sehen, die zur Ausmalung von 1504 gehören: oben Sankt Georg, unten Sankt Eligius. Damals – 1504 – waren die ursprünglichen romanischen Fenster (oben) durch grössere Spitzbogenfenster (unten) ergänzt worden. (2020)
Innenansicht der Galluskapelle Oberstammheim
Blick ins Innere der Sankt Gallus-Kapelle. An der Südwand (rechts) die biblischen Fresken von um 1320, an der Nordwand (links) die Heiligendarstellungen aus der Umbauzeit von 1504. (2020)
Das Fenster an der Ostwand wurde anlässlich der Renovierungsarbeiten von 1964–68 entdeckt und wieder freigelegt. Es stammt noch aus der Zeit der Romanik und bildete einst den Chorabschluss. (2013)
Die Sankt Gallus-Kapelle von Oberstammheim liegt zwar auf einer kleinen Anhöhe, dem Chilebückli, sie ist vom Dorf aus jedoch problemlos auf einem rollstuhlgängigen Weg erreichbar. (2016)

Am 16. November 759 starb der St.Galler Klostergründer Otmar in der Verbannung. Die fränkischen Grafen Ruthard und Warin sowie der mit ihnen verbündete Bischof Sidonius von Konstanz hatten ihn unter falschen Anschuldigungen abgesetzt und bis zu seinem Tod auf der Insel Werd am Ausfluss des Bodensees gefangen gehalten. Ihr Ziel war es, das aufblühende alemannische Kloster St.Gallen den politischen Interessen der Franken gefügig zu machen und es der vollständigen Kontrolle des Konstanzer Bischofs zu unterwerfen. Sobald dieses Ziel erreicht war, erfuhr St.Gallen auch von fränkischer Seite große Unterstützung. Das Kloster seinerseits wurde zu einem wichtigen Garanten der königlichen Herrschaft in Alemannien, zu einem Zentrum der karolingischen Reform.

Schon am 29. Juli 761 empfing St.Gallen in den Orten Stammheim, Etzwilen und Basadingen Güter von einem gewissen Isanhard, der ein naher Verwandter von Graf Warin gewesen sein muss, vielleicht sogar sein Sohn. In Stammheim erhielt das Kloster noch weiteren Besitz und wurde so zu einem bedeutenden Grundherrn im Ort. Wohl in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts errichtete St.Gallen hier eine Eigenkirche, die das spirituelle Zentrum der klösterlichen Besitzungen bildete. Das Gotteshaus war dem heiligen Gallus geweiht und stand schon damals auf dem Chilebückli – am Ort der heutigen Sankt Gallus-Kapelle von Oberstammheim.

Die Besitzungen des Klosters St.Gallen konzentrierten sich zunächst auf das Gebiet von Oberstammheim. Die Gegend von Unterstammheim gehörte dem König, und auf dem Königshof gab es eine eigene, der Gottesmutter Maria geweihte Kirche. Diesen Hof schenkten die Könige Karl III. im Jahr 879 und Konrad I. im Jahr 911 samt der dazugehörigen Kirche ebenfalls dem Kloster St.Gallen, das dadurch zum wichtigsten Grundherrn in Stammheim avancierte. In seiner Schenkungsurkunde vom 28. November 879 bestimmte Karl III. (der Dicke), dass aus den Erträgen des Stammheimer Hofs zu Ehren von Sankt Otmar und für das Seelenheil des Königs eine geistliche Gemeinschaft von acht Männern unterhalten werden solle. Damit war das Unrecht, das die Vorfahren Karls III. dem St.Galler Klostergründer angetan hatten, definitiv ausgesühnt.

Neben kirchlichen übte das Kloster St.Gallen in Stammheim auch weltliche Rechte aus. Es besaß bis 1303 die niedere Gerichtsbarkeit, musste diese dann aber an die Herren von Klingenberg auf dem Hohentwiel abtreten, von denen sie 1463 an die Stadt Zürich überging. Viele Rechte in Stammheim blieben dem Kloster St.Gallen aber bis zu seiner Auflösung (1805) erhalten. Erst im Jahr 1808 verkaufte der Kanton St.Gallen dem Kanton Zürich das Patronatsrecht sowie die Zehnten und Grundzinse von Stammheim, womit ein über tausendjähriges Rechtsverhältnis endete. Dieses hatte zuvor selbst die Reformation überdauert, obwohl die Stammheimer im Jahr 1524 den neuen Glauben angenommen hatten.

Von der ältesten, in der Karolingerzeit entstandenen Sankt Gallus-Kirche von Oberstammheim hat die Archäologie nur ganz wenige Baureste gefunden. Die heutige Kapelle geht in ihrem Kern auf einen romanischen Bau aus dem 12. Jahrhundert zurück. 1504 wurde das Gotteshaus erneuert, neue Spitzbogenfenster sollten damals die Lichtverhältnisse im Innern verbessern. Gleichzeitig wurden die Wände mit Heiligenfresken im spätgotischen Stil geschmückt.

In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde das mittlerweile evangelische Gotteshaus baulich erweitert. Die nicht mehr benötigte Sakristei wurde abgerissen. Durch die Vergrößerung des Chors und die Entfernung des Chorbogens entstand ein ungegliederter Rechteckbau, der nach einer weiteren Verlängerung im Jahr 1706 seine heutigen Ausmaße erhielt. Durch die Entfernung des Chorbogens war die Statik des Gebäudes gestört worden, weshalb zur Sicherung von Dach und Dachreiter ein Stützpfeiler eingebaut werden musste.

Im Zuge der Reformation waren in Oberstammheim die Altäre und Reliquien aus der Kirche entfernt und die erst zwei Jahrzehnte zuvor entstandenen Wandmalereien übertüncht worden. Ende des 19. Jahrhunderts machte man sich daran, die Fresken von 1504 wieder freizulegen. Natürlich ging es dabei nicht um die Verehrung der Heiligenbilder – Oberstammheim war nach wie vor ein durch und durch reformiertes Dorf. Vielmehr zeigt sich in der Freilegung der mittelalterlichen Fresken ein wachsendes kulturhistorisches Verständnis. Der Respekt vor den künstlerischen Leistungen der Vorfahren überwand den konfessionellen Dogmatismus. Ähnliche Freilegungen von gotischen Wandmalereien fanden damals auch in anderen evangelisch-reformierten Kirchen des Zürichbiets statt. Im Falle von Oberstammheim ließe sich dabei noch anmerken, dass bei der Restaurierung der reformierte Pfarrer Alfred Farner und der katholische Kunsthistoriker Robert Durrer eng zusammenarbeiteten.

Was für eine Überraschung die Restauratoren in Oberstammheim erwartete! Unter den Wandmalereien von 1504 kam an der Südwand der Kapelle eine noch ältere Verputzschicht mit Fresken aus dem frühen 14. Jahrhundert zum Vorschein. Schnell stellte es sich heraus, dass diese großflächig erhaltenen Fresken zu den ältesten Kirchenmalereien und gleichzeitig zu den bedeutendsten kunsthistorischen Denkmälern des Kantons Zürich gehören. Die kunsthistorische Forschung konnte die Entstehungszeit der Oberstammheimer Fresken auf die Zeit um 1320 eingrenzen. Sie stehen in der stilistischen Nachfolge des ersten Nachtragsmeisters des weltberühmten Codex Manesse (Heidelberger Liederhandschrift).

Die Fresken an der Südwand der Sankt Gallus-Kapelle von Oberstammheim stellen eine wunderbare mittelalterliche Bilderbibel dar. Ihre Komposition in drei waagrechten Bildstreifen zeigt im oberen Teil die alttestamentliche Schöpfungsgeschichte – ein Motiv von höchstem kunsthistorischem Seltenheitswert. Die mittlere Bildreihe stellt Szenen aus dem Leben Jesu von der Verkündigung bis zum Abendmahl dar, während die unterste Reihe der Passion Christi gewidmet ist. Durch das Ausbrechen der neuen Spitzbogenfenster um 1504 wurden zwar einige Bilder des Zyklus beschädigt, insgesamt sind die Oberstammheimer Fresken aber sehr gut erhalten geblieben.

Sorgfältige Restaurierungen haben zur Konservierung der Wandbilder beigetragen. Ihre letzte umfassende Innenrenovierung erfuhr die Sankt Gallus-Kapelle 1964–68. Dabei wurde unter anderem auch die Längsempore an der Nordwand des Gotteshauses entfernt, die wohl im 17. Jahrhundert zur Behebung des Platzmangels eingebaut worden war. An dieser Nordwand, die stets mit Feuchtigkeitsproblemen zu kämpfen hatte, haben sich keine großflächigen Wandmalereien erhalten. Erfreulicherweise konnten aber dennoch zwei Fresken aus der Umbauzeit von 1504 freigelegt werden. Die spätgotischen, bereits in Richtung Renaissance weisenden Bildkompositionen stellen Sankt Georg und Sankt Eligius dar. So stehen sich heute in der Sankt Gallus-Kapelle von Oberstammheim kunstgeschichtliche Zeugnisse aus der Zeit um 1300 und 1500 gegenüber und machen das Gotteshaus zu einem der bedeutendsten und sehenswertesten Kulturdenkmäler der Region.


Panorama
Loading...
Literatur

Brunner, Emil, Die Galluskapelle von Oberstammheim, Basel 1979.

Bühler, Beat, Gegenreformation und katholische Reform in den stift-st.gallischen Pfarreien der Diözese Konstanz unter den Äbten Otmar Kunz (1564-1477) und Joachim Opser (1577-1594), St.Gallen 1988 (St.Galler Kultur und Geschichte 18).

Diener, Markus, Aus der Geschichte der Kirchgemeinde Stammheim, Unterstammheim 2003.

Diener, Markus; Haerter, Berthold; Zollinger, Hans, Die Fresken der Galluskapelle in Oberstammheim. Bilder, Erläuterungen, Gedanken, Stammheim.

Erhart, Peter; Kuratli Hüeblin, Jakob; Oberholzer, Paul, 1400xGallus, St.Gallen 2012.

Farner, Alfred, Geschichte der Kirchgemeinde Stammheim und Umgebung, Zürich 1900.

Fietz, Hermann, Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich. Band I. Die Bezirke Affoltern und Andelfingen, Mit einer Einleitung zum Kanton Zürich von Anton Largiadèr, Basel 1938 (Die Kunstdenkmäler der Schweiz 7).

Haid, Wendelin, Liber decimationis cleri Constanciensis pro Papa de anno 1275, in: Freiburger Diözesanarchiv 1 (1865), S. 1–303.

Heimatbuch-Kommission Stammheim (Hg.), Mein Stammertal, Wil 1991.

Hübner, Rudolf, Gerichtsurkunden der fränkischen Zeit. Erste Abteilung, Die Gerichtsurkunden aus Deutschland und Frankreich bis zum Jahre 1000, Weimar 1891.

Kamber, Peter, Der Ittinger Sturm. Eine historische Reportage, Wie und warum die aufständischen Bauern im Sommer 1524 die Kartause Ittingen besetzten und in Brand steckten, Warth 1997 (Ittinger Schriftenreihe 6).

Obergfell, Prisca, Die Wandgemälde der Gallus-Kapelle in Oberstammheim, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 52 (1995), S. 191–208.

Oberholzer, Paul, Vom Eigenkirchenwesen zum Patronatsrecht. Leutkirchen des Klosters St.Gallen im Früh- und Hochmittelalter, St.Gallen 2002 (St.Galler Kultur und Geschichte 33).

Zollinger, Hans, Galluskapelle. Geschichtlicher Abriss, Oberstammheim 2003.

Zollinger, Hans, Galluskapelle. Die Fresken der Süd- und Nordwand, das Chorfenster, Oberstammheim 2003.

Kennen Sie noch weitere Literatur zu dieser Kirche? Helfen Sie mit, indem Sie uns diese mitteilen. Vielen Dank!

Stand: Dezember 2017

Gottesdienste
Die Gottesdienste in der Galluskapelle Oberstammheim werden auf der Website der reformierten Kirche Stammheim angekündigt.